Zikaden (Auchenorrhyncha)

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Diagnose

Körperlänge: 1–95 mm, meist unter 10 mm.

Kopf: mehr oder weniger unbeweglich mit Prothorax verbunden. Clypeus stark entwickelt (beinhaltet pharyngale Saugmuskulatur). Labium entspringt in der Halsmembran (Auchenorrhyncha = Kehlschnäbler). Antennen kurz, meist 2–3 Basalglieder und eine borstenförmige Geißel; Fulgoromorpha mit Sensilla placodea. Eukone Komplexaugen; Höhlenzikaden augenlos; primär 3 Ocellen, Medianocellus meist reduziert. Hinterhaupt membranös (Unterschied zu Heteroptera). 

Thorax: Mesothorax gegenüber Pro- und Metathorax stark entwickelt. Pronotum bei den Fulgoromorpha halsschildartig, bei den Cicadomorpha vergrößert (Membracidae mit vielgestaltigen Sklerotisierungen). Adulte mit Sprungfähigkeit weisen lange, schlanke Hinterbeine auf. Vorderbeine der grabenden, unterirdisch lebenden Larven der Cicadoidea zu Grabbeinen umgewandelt. Vorderflügel meist größer als Hinterflügel, selten stärker sklerotisiert; oft andersartig gefärbt. Häkchen am Vorderrand des Hinterflügels greifen in eine Falte am Hinterrand des Vorderflügels, so dass die Flügel während des Fluges miteinander gekoppelt sind (funktionelle Zweiflügeligkeit). Flügelform und -aderung variieren erheblich, inkl. Reduktion der Aderung sowie der Flügel (Boden- und Höhlentiere); oft entscheiden Umweltbedingungen während der Larvalentwicklung, ob macroptere oder microptere Imagines entstehen. Flügel werden in Ruhe dachförmig über den Körper gelegt

Abdomen: Abdomen mit 11 Segmenten, von denen 9–10 sichtbar sind. A1–A2 mit Tymbalorgan (meist nur ♂); Modulation von Frequenz und Amplitude durch Abdomen; Cicadoidea mit Tracheenblase und Tympanalorgan. A9 der ♂ mit Kopulationsorgan. Bei den ♀ Paarungs- und Eiablageöffnung gemeinsam oder getrennt. A10 + A11 bilden Analkegel (Abspritzen der Kottropfen!).

Nomenklatur

= Cicadina

Stammesgeschichte und Klassifikation

Stammlinienvertreter aus dem Karbon, fossile Zikaden aus dem Perm.

Rundkopfzikaden (Cicadomorpha)
- Cercopoidea
- Cicadoidea
- Membracoidea

Spitzkopfzikaden (Fulgoromorpha)
Kopf: Antennen unter den Komplexaugen ansetzend; Pedicellus meist vergrößert und mit runden Sinnesplatten (Sensilla placodea). Clypeus vergrößert (enthält die pharyngiale Saugmuskulatur).
Thorax: Mesocoxen lang und weit von der ventralen Mittellinie entfernt; Metacoxen unbeweglich mit dem Thorax verwachsen.
- Fulgoroidea

Diversität

Weltweit 42.550 Arten, von denen 635 in Deutschland vorkommen (Nickel et al. 2016). Aus Sachsen sind 480 Arten bekannt, davon 469 indigene Arten, 8 Neozoen und 3 ubeständige Arten (Walter 2024). 

Lebensweise

Die Partnerfindung erfolgt zunächst durch artspezifische Lauterzeugung, dann optisch. Bei „Kleinzikaden“ erfolgt die infraspezifische Kommunikation nicht akustisch über die Luft, sondern über Substratvibration.

Zur Eiablage sägen die Weibchen mit den Gonapophysen des 8. Abdominalsegmentes einen Gang in krautige oder verholzte Pflanzen, in den die Eier hineingelegt werden. Sekundär werden die Eier auch an Steine, in Erde oder m.o.w. frei an Pflanzen gelegt. Pro ♀ werden 25 – 1.000 Eier abgelegt. Die Membracidae schützen ihre Eigelege mit Sekreten und bewachen sie. Später schützen Ameisen die Larven, die als Phloemsaftsauger süße Sekrete ausscheiden. 

Die Adulten saugen meist an den oberirdischen Bereichen, die Larven an den Wurzeln der Pflanzen. Manche Zikadenarten sind potentielle Schaderreger an Kulturpflanzen, dies aber weniger durch die eigentliche Saugtätigkeit, sondern vor allem durch die Eiablage und die Übertragung von pflanzenpathogenen Viren während der Saugtätigkeit.

Unter den Zikaden gibt es Phloem-, Xylem- und Zellsaftsauger. Phloemsaftsauger besitzen eine Filterkammer und einen „Kurzschluss" zwischen Mitteldarmanfang und -ende, der ein schnelles Ausscheiden von im Überfluss aufgenommenen Flüssigkeitsmengen ermöglicht (insbesondere Wasser und Saccharose). Der zuckerhaltige Honigtau ermöglicht mutualistische Beziehungen mit Ameisen. Endosymbiosen mit Bakterien und Hefen sind meist obligatorisch.

Viele Fulgoroidea, vor allem deren Larven, produzieren Wachsfäden.

Die Entwicklung verläuft über vier bis sechs Larvenstadien. Die Wiesenkleezirpe (AS_Euscelisincisa) mit zwei Generationen pro Jahr, die einen ausgeprägten Saisondimorphismus zeigen. Die Frühjahrsgeneration mit kleinen, dunkel gefärbten Individuen und die Sommergeneration mit größeren, hellen Individuen. Letztere zudem mit längerem Aedoeagus, der distal mit Häkchen versehen ist. Die in Japan vorkommenden Cryptotympana facialis und Graptopsaltria nigrofuscata haben eine 10–12 Monate andauernde Embryonalentwicklung (Moriyama & Numata 2008). Im östlichen Nordamerika leben sieben Arten der Gattung Magicicada, die eine 13- oder 17-jährige Larvalentwicklung durchmachen, wobei nahezu alle Adulten einer Population jeweils synchron schlüpfen.

Bestimmung der einheimischen Arten

Einen guten Einstieg in die Bestimmung der einheimischen Zikadenarten ermöglicht das Buch von Mühlethaler et al. (2018), das die 350 häufigsten und auffälligsten der 700 Arten im deutschsprachigen Raum mit Farbfotos darstellt. Mit den Büchern von Holzinger et al. (2003), Biedermann & Niedringhaus (2004) sowie Kunz et al. (2011) liegen umfassende Werke zur Bestimmung aller in Deutschland vorkommenden Arten nach äußeren Merkmalen vor. Die Weibchen einiger Gattungen sind nach äußeren Merkmalen jedoch nicht bestimmbar (Biedermann & Niedringhaus 2004). Seit dem Erscheinen dieser Bücher sind weitere Arten in unser Faunengebiet eingewandert und/oder verschleppt worden. Dazu ist die aktuelle Fachliteratur zu Rate zu ziehen, wie z. B. die online frei verfügbare Zeitschrift "Cicadina".

Literatur

  • Biedermann, R. & R. Niedringhaus 2004: Die Zikaden Deutschlands. Bestimmungstafeln für alle Arten. – Wissenschaftlich Akademischer Buchvertrieb, Fründ, Scheeßel. 409 S.
  • Bieman, K. den, R. Biedermann, H. Nickel & R. Niedringhaus 2011: The Planthoppers and Leafhoppers of Benelux. Identification keys to all families and genera and all Benelux species not recorded from Germany. – Cicadina Suppl. 1: 1–120.
  • Cryan, J. R. 2005: Molecular phylogeny of Cicadomorpha (Insecta: Hemiptera: Cicadoidea, Cercopoidea and Membracoidea): adding evidence to the controversy. – Systematic Entomology 30 (4): 563–574.
  • Cryan, J. R. & J. M. Urban 2012: Higher-level phylogeny of the insect order Hemiptera: is Auchenorrhyncha really paraphyletic? – Systematic Entomology 37: 7–21.
  • Holzinger, W. E., I. Kammerlander & H. Nickel 2003: Die Zikaden Mitteleuropas 1. – Brill Academic Publishers. [Bände 2 – 3 in Vorbereitung]
  • Kunz, G., H. Nickel & R. Niedringhaus 2011: Fotoatlas der Zikaden Deutschlands. – Wissenschaftlich Akademischer Buchvertrieb, Fründ, Scheeßel. 293 S.
  • Moriyama, M. & H. Numata 2008: Diapause and prolonged development in the embryo and their ecological significance in two cicadas, Cryptotympana facialis and Graptopsaltria nigrofuscata. – Journal of Insect Physiology 54 (12): 1487–1494.
  • Nickel, H. 2003: The Leafhoppers and Planthoppers of Germany (Hemiptera, Auchenorrhyncha): Patterns and strategies in a highly diverse group of pyhtophagous insects. – Pensoft, Sofia-Moskau und Goecke & Evers, Keltern. X + 460 S.
  • Nickel, H. 2010: First addendum to the Leafhoppers and Planthoppers of Germany (Hemiptera: Auchenorrhyncha). – Cicadina 11: 107–122.
  • Nickel, H. 2022: Second addendum to the Leafhoppers and Planthoppers of Germany (Hemiptera: Auchenorrhyncha). – Cicadina 21: 19–54.
  • Nickel, H., R. Achtziger, R. Biedermann, C. Bückle, U. Deutschmann, R. Niedringhaus, R. Remane, S. Walter & W. Witsack 2016: Rote Liste und Gesamtartenliste der Zikaden (Hemiptera: Auchenorrhyncha) Deutschlands. S. 249–298. – In: H. Gruttke, S. Balzer, M. Binot-Haffke, H. Haupt, N. Hofbauer, G. Ludwig, G. Matzke-Hajek & M. Reis, Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands, Band 4: Wirbellose Tiere (Teil 2). – Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (4). Bonn - Bad Godesberg.
  • Nickel H. & R. Remane 2002: Artenliste der Zikaden Deutschlands mit Angabe von Nährpflanzen, Nahrungsbreite, Lebenszyklus, Areal und Gefährdung (Hemiptera, Fulgoromorpha et Cicadomorpha). – Beiträge zur Zikadenkunde 64: 27–64.
  • Rösch, V., S. Schuch, H. Sára, A. Sára, S. Marinković, R. v. Klink, M. Jakovljević, F. Helbing, I. Gjonov, M. H. Entling, R. Biedermann & R. Achtziger 2023: Leafhopper diversity in home gardens – results of a survey in four countries across Europe (Hemiptera, Auchenorrhyncha). – Cicadina 22: 39–57.
  • Schiemenz, H. 1968: Die Zikadenfauna (Homoptera Auchenorrhyncha) mitteleuropäischer Trockenrasen – Untersuchungen zu ihrer Phänologie, Ökologie, Bionomie und Chorologie. – Abhandlungen und Berichte des Naturkundemuseums Görlitz 44 (2): 195–205.
  • Schiemenz, H. 1987: Beiträge zur Insektenfauna der DDR: Homoptera Auchenorrhyncha (Cicadina) (Insecta) Teil I: Allgemeines, Artenliste; Überfamilie Fulgoroidea. – Faunistische Abhandlungen Staatliches Museum für Tierkunde Dresden 15 (8): 41–108.
  • Schiemenz, H. 1988: Beiträge zur Insektenfauna der DDR: Homoptera - Auchenorrhyncha (Cicadina) (Insecta) – Teil II: Überfamilie Cicadoidea excl. Typhlocybinae et Deltocephalinae. – Faunistische Abhandlungen Staatliches Museum für Tierkunde Dresden 16 (5): 37–93.
  • Schiemenz, H. 1990: Beiträge zur Insektenfauna der DDR: Homoptera - Auchenorrhyncha (Cicadina) (Insecta) – Teil III: Unterfamilie Typhlocybinae. – Faunistische Abhandlungen Staatliches Museum für Tierkunde Dresden 17 (17): 141–188.
  • Schiemenz H., R. Emmrich  & W. Witsack 1996: Beiträge zur Insektenfauna Ostdeutschlands: Homoptera - Auchenorrhyncha (Cicadina) (Insecta) – Teil IV: Unterfamilie Deltocephalinae. – Faunistische Abhandlungen Staatliches Museum für Tierkunde Dresden 20 (10): 153–258.
  • Schuch, S., K. Wesche & M. Schaefer 2012: Long-term decline in the abundance of leafhoppers and planthoppers (Auchenorrhyncha) in Central European protected dry grasslands. – Biological Conservation 149: 75–83.
  • Song, N. & A.-P. Liang 2013: A preliminary molecular phylogeny of planthoppers (Hemiptera: Fulgoroidea) based on nuclear and mitochondrial DNA sequences. – PLoS ONE 8 (3): e58400.
  • Sorensen, J.T., B. C. Campbell, R. J. Gill & J. D. Steffen-Campbell 1995: Non-monophyly of Auchenorrhyncha ("Homoptera"), based upon 18S rDNA phylogeny: eco-evolutionary and cladistic implications with pre-Heteropteroidea Hemiptera (s.l.) and a proposal for new monophyletic suborders. – Pan-Pacific Entomologist 71 (1): 31–60.
  • Stöckmann, M., R. Biedermann, H. Nickel & R. Niedringhaus 2013: The Nymphs of the Planthoppers and Leafhoppers of Germany. – Wissenschaftlich Akademischer Buchvertrieb - Fründ, Scheeßel. 419 S.
  • Strümpel, H. 2010: Die Zikaden. – Westarp Wissenschaften, 268 S.
  • Mühlethaler, R., W. Holzinger, H. Nickel & E. Wachmann 2018: Die Zikaden Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. – Quelle & Meyer, 360 S.
  • Walter, S. 2024 (2. Aufl.): Rote Liste und Artenliste Sachsens – Zikaden. – Sächsisches Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie (LfULG). 72 S.
  • Walter S., R. Emmrich & H. Nickel 2003: Rote Liste Zikaden. – Sächsisches Landesamt für Umwelt und Geologie Dresden. 27 S.
  • Walter, S., R. Emmrich, R. Achtziger & F. W. Sander 2009: Kommentiertes Verzeichnis der Zikaden (Auchenorrhyncha) des Freistaates Sachsen mit Neufunden für Sachsen. – Mitteilungen Sächsischer Entomologen 87: 1–20.

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Autor(-en): Matthias Nuß. Letzte Änderung am 13.02.2025
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