Lars Chittka: Im Cockpit der Biene – Wie sie denkt, fühlt und Probleme löst

07.04.2024

Lars Chittka 2024: Im Cockpit der Biene – Wie sie denkt, fühlt und Probleme löst. Deutsche Übersetzung von Karin Fleischanderl. – Folio Verlag, Wien und Bozen. 323 S. Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel The Mind of a Bee bei Princeton University Press.

Möchte man den gemeinsamen Ursprung der Entwicklungslinien von Insekten und uns Menschen ergründen, muss man den Stammbaum des Lebens hinab in die Erdgeschichte bis in die Zeit vor 680 Millionen Jahren klettern, als sich die Zweiseitentiere (Bilateria) in die Urmundtiere (Protostomia) und die Neumundtiere (Deuterostomia) auftrennten. Aus den Urmundtieren gingen später u.a. die Insekten und aus den Neumundtieren u.a. die Wirbeltiere hervor (Dohrmann & Wörheide 2017). Nach 680 Millionen Jahren getrennter Evolution besitzen Insekten und Wirbeltiere zwar sehr verschiedene ‚Nervenkostüme‘, aber aufgrund ihrer gemeinsamen Abstammung auch einige grundlegende Gemeinsamkeiten wie z. B. Synapsen, die Erregung nur in eine Richtung weiterleiten und ein zentrales Nervensystem (Lecointre & Le Guyader 2001). Anders als Wirbeltiere besitzen Insekten ein Außenskelett und sehen mit Komplexaugen, die aus vielen Einzelaugen (Ommatidien) bestehen. Wir Menschen nehmen Insekten visuell daher quasi als kleine ‚Ritter‘ in Rüstung mit heruntergelassenem Visier und somit ohne Mimik wahr. In ihrem gesamten inneren und äußeren Körperbau sind Insekten im Vergleich zu uns derart verschieden, dass Lars Chittka, Professor of Sensory and Behavioural Ecology an der Queen Mary University of London, sie respektvoll auch als ‚irdische Aliens‘ bezeichnet.

In seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch „Im Cockpit der Biene“ nimmt der Autor uns mit auf eine Entdeckungsreise zum Bewusstsein der Bienen. Lange schon interessieren sich Menschen für die Frage, ob Tiere einschließlich Bienen ein Bewusstsein haben. Aber detaillierte Beobachtungen über das Verhalten von Bienen und daraus gezogene Überlegungen zur Intelligenz von Bienen gingen über lange Zeit nicht in das Bewusstsein einer breiten menschlichen Öffentlichkeit über. Es fehlten die wissenschaftlichen Beweise. Genau an diesem Punkt hat sich in den letzten drei Jahrzehnten viel getan und daran hat auch das wissenschaftliche Wirken von Lars Chittka und seiner Arbeitsgruppe einen großen Anteil. So erfahren wir in seinem Buch aus erster Hand, wie man sich als Wissenschaftler einem ‚irdischen Alien‘ nähert, welchen logischen Gedankengängen die Forscher folgen, welche Fragen sie stellen und wie sie dies in Experimente umsetzen. Nicht immer erhalten sie dabei die erwarteten Antworten und manchmal stellen sich auch ganz unerwartet Ergebnisse ein, etwa, wenn ein noch junger Lars Chittka seinen ersten Arbeitsplatz in einem fensterlosen Kellerraum beziehen darf.

In den einzelnen Kapiteln des Buches nimmt uns Lars Chittka Schritt für Schritt in die Sinneswelt der Bienen mit. Logisch aufeinander folgend beschreibt er die vielfältigen Sinne der Bienen und welche Umweltinformationen sie damit aufnehmen, gefolgt vom vielfältigen Repertoire angeborener Verhaltensweisen und ihrem Einfluss auf Psyche und Lernverhalten. Im nächsten Schritt erfahren wir, warum die Grundlage der Intelligenz der Bienen in ihrer ortsgebundenen Lebensweise zu suchen ist. Weiter geht es zur räumlichen Vorstellung der Bienen und zur grundlegenden Notwendigkeit, die Lage von Blumen, Farben und Gerüchen zu erkennen sowie während ihres kurzen Lebens Regeln und Konzepte für eine effiziente Nutzung der Ressourcen zu entwickeln. „Mittlerweile wissen wir, dass Bienen große Intelligenz besitzen, die sich jedoch von der anderer Tiere, auch des Menschen, grundsätzlich unterscheidet. Egal, über welche spezifischen Lösungsstrategien sie verfügen, Bienen besitzen kognitive Fähigkeiten, die man bis vor Kurzem für ein Privileg von Wirbeltieren mit viel größeren Hirnen hielt.“ Dann geht es weiter zum sozialen Lernen. Schon Darwin vermutete, dass Bienen voneinander lernen können, aber es musste noch das gesamte 20. Jahrhundert vergehen, bevor dies experimentell bewiesen wurde. Bienen können eine überraschend große Menge an Informationen erwerben, in dem sie andere Bienen, nicht nur solche der gleichen Art, beobachten. Ausgestattet mit diesem Grundlagenwissen geht es nun zum Mini-Nervensystem der Bienen und zu der Frage, wie dieses eine derartige Komplexität tragen kann. Danach erfahren wir, dass es auch bei Bienen unterschiedliche Persönlichkeiten gibt und welche individuellen Verhaltensunterschiede daraus resultieren. Schließlich kommt Lars Chittka zur wohl schwierigsten Frage: Haben Bienen ein Bewusstsein? Und welche Schlussfolgerungen müssen wir Menschen für den Schutz der Bienen aus der Wahrscheinlichkeit ziehen, dass sie zumindest ein elementares Gefühlsleben besitzen?

In allen Kapiteln beschreibt Lars Chittka anschaulich, verständlich, nachvollziehbar und mitreißend selbst komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge. An vielen Stellen helfen Illustrationen, Sachverhalte besser zu verstehen. Einem jeden Kapitel stellt er ein Zitat aus historischen Zeiten voran. Es erinnert daran, dass es stets Menschen gab, die keinen Zweifel an kognitiven Fähigkeiten der Bienen hatten. Auf dem Weg zu unserem heutigen Wissensstand gab es viele Forscherpersönlichkeiten, die große Entdeckungen veröffentlichten. Aber nicht für alle von ihnen resultierte daraus ein glückliches Leben und manche erfuhren zu Lebzeiten nicht einmal davon, dass ihre wissenschaftliche Leistung schließlich Beachtung fand. Deshalb ist dieses Buch so wichtig: Es informiert uns allgemeinverständlich über den Wissensstand zum Bewusstsein der Bienen. Mit diesem Wissen werden aus den entomologischen Forschungsobjekten Individuen, und unser Bewusstsein darüber wird die Entomologie nach den vielen technischen Innovationen der letzten Jahrzehnte wie der Molekularbiologie, der digitalen Makrofotografie und jetzt der Künstlichen Intelligenz weiter verändern. 

Man mag dieses Buch lesen und sich von der Spannung tragen lassen, stets neugierig darauf, was die nächsten Seiten an neuen Erkenntnissen zutage fördern werden. Man kann es aber auch studieren, und wem die Lektüre dafür noch zu kurz erscheint, der findet am Ende des Buches ein 40-seitiges Literaturverzeichnis, das für einen ersten Einstieg in diese Wissenschaft mehr als genügen sollte. Schließlich findet sich ein Inhaltsverzeichnis, über das man schnell an die indizierten Orte des Buches gelangt.

Nach dem Lesen dieses Buches bleibt ein großes Staunen über die komplexen Leistungen, die Bienen mit ihrem winzigen Nervensystem während ihrer sehr kurzen Lebensdauer vollbringen. Beeindruckend sind die Beschreibungen zu Struktur, Komplexität und Funktionalität ihres Nervensystems. Lars Chittka resümiert dazu: „Vielleicht ist eine auf Bewusstsein basierende allgemeine Intelligenz nicht nur flexibler bei der Problemlösung, sondern erfordert auch weniger Hirnleistung, ist somit weniger aufwendig und erfordert weniger Hirnzellen."

Danke für dieses Buch! (mn)



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