Aktuelle Zahlen zum Insektensterben sind keine Unstatistik

07.01.2018

Zusammenfassung
Aus momentaner wissenschaftlicher Kenntnis gibt es keinen Grund, an einer 76%igen Abnahme der Biomasse fliegender Insekten in den Naturschutzgebieten Norddeutschland zu zweifeln. Im Oktober 2017 durch die Statistiker-Gruppe Unstatistik verbreitete Darstellungen zum Insektensterben sind verzerrt, falsch und entsprechen nicht der gängigen Wissenschaftspraxis.

Einleitung
Am 18. Oktober 2017 publizierten Wissenschaftler der Radboud University (NL), des Krefelder Entomologischen Vereins (D) und der University of Sussex (GB) die Ergebnisse von Freilanderfassungen in 63 Naturschutzgebieten Norddeutschlands. Danach nahm über die Jahre 1989 bis 2016 die Biomasse fliegender Insekten gemittelt um 6,1 % pro Jahr bzw. über den gesamten Zeitraum um 76,7 % ab (im folgenden kurz Krefelder Studie genannt). Diese besorgniserregenden Zahlen fanden weite Beachtung in den Medien, darunter auch in Sachsen und bei dem Projekt „Insekten-Sachsen“ mit einem Offenen Brief. Es gab auch verschiedene Kritiker der Krefelder Studie. Zum einen gab es Personen, die eine Zunahme von Mücken oder Wespen in den letzten Jahren bemerkt haben wollen. Zum anderen wurde auch der Obstbauverband Sachsen als Kritiker zitiert mit dem Hinweis, dass es zu viele bestäubende Insekten gäbe und Äpfel ausgegeizt werden müssen. Auf meine Anfrage hin wurde mir jedoch erklärt, dass es keine Daten zu dieser Aussage gäbe. Außerdem wurde mir bestätigt, dass Wanderimker die Plantagen des Obstbauverbandes besuchen - damit entbehrt der Hinweis auf angeblich zu vieler Insekten jeder Grundlage. Schließlich bezog sich ein Teil der Kritiker auf die populäre Webseite Unstatistik, nach der die Daten der Krefelder Studie harmlos und statistisch fehlerhaft dafür aber geeignet seien "mit möglichst erschreckenden Zahlen Panik zu machen“.
Die Unstatistik Webseite wird von drei Professoren der Wirtschaftswissenschaften der Ruhr-Universität Essen, der TU Dortmund und dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung betrieben, mit dem Ziel, monatlich jeweils eine weit verbreitete, aber falsche bzw. irreführend Statistik aufs Korn zu nehmen. Diese Initiative ist sehr löblich. Im Falle der Daten zum Insektensterben möchte ich dieser Webseite hiermit entgegentreten, denn sie enthält eine Falschaussage und stellt statistische Ergebnisse so verzerrt dar, dass es in die Argumentation der Autoren passt.

Ich beginne mit der These, dass es - in guter Näherung - in Deutschland keine staatlich geförderten Langzeituntersuchungen im ökologischen Bereich gibt. Das ist im Übrigen weltweit der Fall - es gibt nichts den täglichen Wetterbeobachtungen (oder Aktienkursaufzeichnungen) Äquivalentes im Bereich der Ökologie. Niemand hätte vor 30 Jahren ahnen können, dass nicht nur Insektenarten, sondern auch die Biomasse fliegender Insekten so stark abnehmen würde, dass es einmal nützlich sein könnte, überhaupt über die Biomasse Bescheid zu wissen! Es existieren also keine vorher geplanten Versuche und ohne vorab geplanten Messreihen bleibt nur der Rückgriff auf zufällig getätigte Untersuchungen. Glücklicherweise gibt es einige wenige solcher Untersuchungen, zum Beispiel die Krefelder Studie, wo mit gleicher Methodik in verschiedenen Habitaten und logischerweise unter verschiedenen Witterungsbedingungen die Biomasse fliegender Insekten durch Malaise-Fallen ermittelt wurde. Um eine unterschiedliche Biomasse in verschiedenen Habitaten und bei unterschiedlicher Witterung zu berücksichtigen, wurden statistische Verfahren angewendet, um aus der tatsächlich gemessenen Biomasse jene abzuschätzen, die die unterschiedlichen Witterungs- bzw. Habitatunterschiede berücksichtigt (ein Beispiel: Angenommen, Gebiete, die 21 statt 20 Grad warm sind, weisen eine 10% höhere Insektenbiomasse auf. Sollten nun in frühen Jahren gerade viele Gebiete mit 21 Grad Temperatur untersucht worden sein und in späten Jahren viele mit nur 20 Grad, würde allein dadurch eine (falsche!) Biomasse-Abnahme registriert werden. Deshalb werden jene Temperatureinflüsse 'herausgerechnet'). Das sind Verfahren, die von Statistikern entwickelt wurden und die jeder Ökologe kennt.

Die Autoren von Unstatistik haben nicht im wissenschaftlich üblichen Sinne auf die angeblichen Fehler der Studie reagiert, sondern sind direkt an ein statistisch nicht geschultes Publikum gegangen - die Öffentlichkeit. Diese Beifallsheischerei ist meines Erachtens ungeeignet, ein wichtiges gesellschaftliches Problem zu diskutieren. Auf meine oben formulierten Vorwürfe teilen mir die Verfasser der Unstatistik mit, dass sie nicht die Ergebnisse, sondern die Machart der Studie kritisieren. Wie das eine ohne das andere geht, ist mir nicht klar, vielleicht haben die Wirtschaftsprofessoren ungenügenden Einblick wie selten solche Daten der Krefelder Studie sind und wie sie zustande kommen. Im Folgenden weise ich die Diskreditierung der 27-jährigen Freilandstudie durch die Kollegen von Unstatistik komplett zurück.

1) Die Abnahme der Biomasse in der Studie der Krefelder Entomologen beruht auf einem Trend über viele Jahre und stellt ein robustes Ergebnis dar
Unstatistik stellt dar, dass die Krefelder Entomologen "nach 27 Jahren 76 Prozent weniger Biomasse in den Fallen" hatten. Dies ist eine verzerrte Aussage, da sie impliziert, dass die Studie nur im Jahr 1 und dann erst nach 27 Jahren gemessen wurde (Verwirrenderweise war genau dieses kritisierenswerte Vorgehen durch einige Autoren der Krefelder Studie in einer vorherigen Studie so getan worden). Korrekt ist hingegen, dass die Krefelder Studie durchschnittlich eine jahrweise Abnahme der Biomasse von 6,1% fand, die sich somit über 27 Jahre auf 76,7% beläuft.

2) Fehlende jahrweise Wiederholungsproben am gleichen Standort ändern nichts am Gesamttrend einer 76%igen Abnahme der Biomasse fliegender Insekten
Die Webseite Unstatistik führt weiter aus: "An den meisten Standorten wurde keine einzige Wiederholungsmessung durchgeführt". Es ist in der Tat bedauerlich, dass die Forscher an 37 von 63 Standorten keine Zeit und Kapazitäten hatten, die monatliche Fallenleerung in mehreren Jahren durchzuführen und damit korrekterweise "die meisten" nämlich 59% der Standorte der Krefelder Studie ohne jahrweise Wiederholungsmessung bleiben. So etwas muss bei Wirtschaftsstatistikern, die möglicherweise mit - wie bei Wetterbeobachtungen - permanent überwachten Börsenkurse arbeiten, auf Unverständnis stoßen.
Hat es denn irgendeinen Einfluss auf das Ergebnis, dass in 59% der Standorte nicht wiederholt untersucht wurde? Nein. Und zwar aus zwei Gründen nicht. Erstens wurde in der Krefelder Studie zufällig ausgewählt, in welchem Jahr welche Gebiete mit Fallen bestückt wurden - wenn die Insektenbiomasse von Jahr zu Jahr zufällig zu- oder abnehmen würde, ist dadurch gewährleistet, dass die Chance, Standorte mit Zunahme oder mit Abnahme erwischt zu haben, 50% ist. Es gibt keinen Grund, die Auswahl der Standorte und damit die Ergebnisse anzuzweifeln. Selbstverständlich wird die Schätzung der Biomasse-Veränderung genauer, wenn weitere Untersuchungen einfließen.

3) Standorte, die in mehreren Jahren gemessen wurden, stimmen in der 76%igen Abnahme der Biomasse fliegender Insekten überein
Der zweite Grund ist jener, dass die Krefelder Studie eben mehrere Standorte in mehreren Jahren untersucht hat, und zwar in 26 Gebieten. Mittelt man die Abnahme der Biomasse in den wiederholt gemessenen Gebieten, erhält man einen Abnahmewert von 76.2% - eine perfekte Übereinstimmung mit dem Gesamtergebnis von 76.7% auf. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Übereinstimmungen Zufall sein kann, ist fast null. Es gibt keinen Grund, die Ergebnisse einer 76%igen Biomasseabnahme fliegender Insekten anzuzweifeln. Die Diskussion, ob diese Biomasse-Abnahme außerhalb von NSG oder in Süddeutschland anders ist, kann hier nicht geführt werden.

4) Ein Jahr als Anfangsjahr auszuwählen, dass angeblich nur einen 30%igen Biomasseverlust zeigen würde, ist ein äußerst unseriöses Vorgehen
Die Webseite Unstatistik führt aus: "Hätte man das Jahr 1991 statt 1989 als Anfangspunkt gewählt, dann wären es statt 76 Prozent weniger Insekten nur etwa 30 Prozent weniger gewesen." Diese Hätte-hätte-Fahrradkette Argumentation eines Statistikprofessors verwundert, ist doch bei einer Zufallsauswahl der Gebiete und Jahre die Wahrscheinlichkeit einer Überschätzung nahezu genauso hoch ist wie die einer Unterschätzung. Wäre nämlich zum Beispiel 1988 die Biomasse um so viel höher gewesen, wie sie um 1991 niedriger war, hätte-hätte die Gesamtabnahme genauso gut 80% oder gar 85% sein können. Aus Deutschland liegen derzeit keine anderen Messungen zur jährlichen Biomasseveränderung fliegender Insekten vor, deshalb muss der 76% Wert momentan als der wahrscheinlichste angenommen werden.
Warum unter den 15 Jahren der langfristigen Datenreihe (länger als 10 Jahre) gerade 1991 von Unstatistik ausgewählt wurde, bleibt offen. Es hätte jedenfalls nur noch ein einzige weiteres Jahr (2001) herausgepickt werden können, um die Abnahme der Biomasse als weniger gravierend darzustellen.

5) Das selektiv ausgewählte Beispiel einer nur 30%igen Abnahme der Biomasse ist falsch
Die von den Unstatistik-Professoren aus der Luft gegriffenen 30% sind falsch. Aber woher kommt dieser Wert? Er entstünde zum Beispiel, wenn einfach der Wert des Jahres 1991 aus der Grafik der Krefelder Studie als Ausgangspunkt der Abnahme genommen worden wäre. Diese Vorgehensweise würde jedoch zwei peinliche Kardinalfehler enthalten. Zum einen hätte hier der Mittelwert aller auf 1991 folgenden Jahre, und nicht einfach der Wert des Jahres 1991, berücksichtigt werden müssen. Zum zweiten kann nicht vorausgesetzt werden, dass die Temperatur- und Standortverteilung der beiden weggelassenen Jahre gleich denen der Gesamtuntersuchung ist (siehe obiges Beispiel zu 20 und 21 Grad warmer Schutzgebiete). Solche Fehler können jedoch keinem Statistikstudenten, geschweigend denn -professor unterlaufen sein und die 30% müssen einen anderen, bisher unerklärten Ursprung haben.
Die Autoren der Krefelder Studie haben ausgerechnet, was passieren würde, wenn die beiden Jahre 1989 und 1990 nicht berücksichtigt würden: überhaupt nichts. Würde die Abnahme ab 1991 berechnet, würde der Biomasseverlust bis 2016 statt 76.8% dann 76,7% betragen.

6) Vorhandene Daten nicht berücksichtigen zu wollen, ist Wissenschaftsbetrug
Als Hochschullehrer finde ich bereits den Vorschlag von Unstatistik äußerst bedenklich, zwei Jahre wegzulassen, die einem nicht in den Kram passen. Welchen Schein wirft das denn auf Naturwissenschaften, wenn wir mal eben Daten weglassen, die wir nicht haben wollen? Und dieser Vorschlag wurde ja nicht im Rahmen einer wissenschaftlichen Robustheitsanalyse gemacht, sondern im Appell an die Öffentlichkeit. Hier haben die Unstatistik-Professoren in der Öffentlichkeit den unsauberen Eindruck hinterlassen, so etwas könnte gängige Praxis bei Wissenschaftlern sein. Außerdem widerspricht dieser Vorschlag den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis, ist also Wissenschaftsbetrug im weiteren Sinne.
Die Daten von 1989 und 1990 der Krefelder Studie existieren, sie sind real und es gibt nach den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis keine Option, diese Daten auszuwählen oder nicht.

Unstatistik stellt die Frage, warum Panik geschürt werden soll? Diese ist allerdings berechtigt: Warum denn sollten der Krefelder Entomologen Verein und beteiligte Ökologen aus den Niederlanden und Großbritannien Panik schüren wollen und eine größere Abnahme der Biomasse fliegender Insekten behaupten als tatsächlich vorzufinden ist? Ich möchte in diesem Zusammenhang auch meine obige Frage wiederholen: Welche Beweggründe gibt es denn für die Kollegen von Unstatistik, aus einem wirklich besorgniserregenden Trend gerade jenen Datenpunkt herausnehmen zu wollen, der verspricht, die Abnahme am kleinsten erscheinen zu lassen?

Es ist hochgradig dramatisch, dass unter den 300 möglichen jahrweisen Kombinationen der Krefelder Studie insgesamt 236 (79%) eine Abnahme der Biomasse zeigen, obwohl a priori eine solche Abnahme nicht zu erwarten ist. Im Gegenteil, neuerdings höhere Durchschnitts- und Sommertemperaturen könnten eine höhere Generationenzahl pro Jahr und damit sogar eher eine höhere Biomasse erwarten lassen.
Die in der Krefelder Studie ermittelte 76%ige Abnahme der Biomasse fliegender Insekten in den NSG Norddeutschlands ist der momentan wahrscheinlichste Wert. Zur Unterstützung einer Abwägung mit anderen staatlichen Aufgaben ist es die Aufgabe von Ökologen und Entomologen darauf hinzuweisen, dass eine jährliche Abnahme von 6% der Biomasse fliegender Insekten dramatische Folgen haben kann. Die Krefelder Studie liefert nur einen kleinen Hoffnungsschimmer, in dem zumindest einige Faktoren als nicht verantwortlich für die Abnahme erkannt werden. In diesem Sinne können wir nur hoffen, dass diese dramatische Abnahme nicht irreversible Ausmaße erreicht, mit Konsequenzen für Landschaft, Tier und Mensch.

Darlegung möglicher Interessenkonflikte
Aus Anlass der Krefelder Studie habe ich als Privatperson einen Offenen Brief an die Bürgerinnen und Bürger Sachsens mit verfasst. Als Hochschullehrer habe ich die von Unstatistik verbreiteten Aussagen in einer Vorlesung mit Studierenden als Beispiel wissenschaftlicher und publizistischer Unredlichkeit diskutiert.

Professor Dr. rer. nat. habil. Klaus Reinhardt
Angewandte Zoologie, Technische Universität Dresden
 
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